Heute bin ich im Gespräch mit Thomas Hinrichs, Programmdirektor Information des Bayerischen Rundfunks. Die „Diktatur des Algorithmus“ gefährde unsere demokratische Kultur massiv. Thomas Hinrichs klärt über verzerrte Wahrheiten, gesäten Hass und emotionalisierende Inhalte auf, die durch Algorithmen bestimmt werden und die eine freiheitliche Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft erschweren. Im Bayerischen Rundfunk arbeitet inzwischen eine eigene Künstliche Intelligenz – Einheit mit Datenjournalisten zusammen, die Algorithmen auswerten und über deren Wirkungsweise aufklären. Hinrichs fordert eine europäische Plattform, wo Europäer den Algorithmus bestimmen können, der aufgrund europäischer Werte und unserer journalistischen Ethik programmiert wird. „Wir werden sonst digital kolonialisiert“, so Thomas Hinrichs.
MO: Thomas, die Diskussion über Qualitätsjournalismus in Zeiten von digitalen Medien ist ein Dauerbrenner. Für eine Demokratie ist freie Meinungsbildung essentiell. Was bedeutet guter Journalismus in unserer gegenwärtigen Zeit für dich?
Thomas Hinrichs: Guter Journalismus ist das, was er immer war. Guter Journalismus informiert; er indoktriniert nicht. Er ist glaubwürdig, zuverlässig und wahrhaftig; er verbreitet keine halbgaren Fake News. Er erklärt, ordnet ein, stellt Zusammenhänge her; er fraktioniert das Publikum nicht, bildet keine Echokammern und Filterblasen. Guter Journalismus schafft gesellschaftliche Kohärenz durch eine gemeinsame, korrekte Informationsbasis, damit sich Meinung bilden und politischer Wille artikulieren kann. Er macht all das, was die kommerzialisierte Form von Nachrichtenverbreitung, die in den sozialen Medien zum Exzess geführt worden ist, nicht macht. Das ist kein Journalismus, ich lehne es ab, das so zu bezeichnen.
MO: Digitale Informationsquellen können von Vorteil sein. Insbesondere jene in sozialen Medien bringen andererseits auch gravierende Probleme mit sich. Heute informiert sich ein großer Anteil der Bevölkerung fast ausschließlich über Soziale Medien. Was sind eure Erfahrungen?
Thomas Hinrichs: Die Digitalisierung ist für guten Journalismus ein Geschenk. Viele, vor allem jüngere Menschen, schauen nicht mehr mit den Eltern TV-Nachrichten, wie ich das noch getan habe. Sie lesen auch keine Zeitung. Das müssen wir respektieren. Aber auch diese Bürgerinnen und Bürger sind sehr an Informationen Interessiert. Digitalisierung hilft, um die Menschen auf verschiedenen Ausspielwegen zu erreichen. Wir können ihnen jetzt Nachrichten liefern, wann und wo sie wollen. Die junge Gesellschaft ist hochpolitisch, das ist wunderbar für eine Demokratie. In der digitalen Welt kann aber jeder zum Sender bzw. Versender von Inhalten werden. Das Monopol der Qualitätsmedien in der Nachkriegszeit, die allein über die Mittel verfügten, Radio- oder TV-Frequenzen zu bespielen oder Druckerpressen zu betreiben, ist mit der Digitalisierung vollends verloren gegangen. Neben verlässlichen Quellen können nun auch Unwissende, Irrende und Menschen, die manipulieren wollen, ihre Thesen verbreiten. Und von Menschen gemachte Algorithmen befördern Fake und Hate, Falschnachrichten und Hassbotschaften, die sonst am Gartenzaun mit einem Kopfschütteln abgetan worden wären und keine Wirkung entfalten konnten. Der oft gehörte Satz: Ich krieg doch alles im Netz, ich muss weder für öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch für journalistische Qualitätsprodukte der Verlage zahlen, stimmt daher nicht. Das Netz ist so voll mit Unsinn, die Algorithmen sind so raffiniert, dass der Konsument verloren ist ohne journalistische Qualitätsanker. Er ist ausgeliefert und merkt es teilweise gar nicht.
MO: Du benennst das Problem zugespitzt als eine „Diktatur des Algorithmus“. Jugendliche bilden sich inzwischen über TikTok, Instagram &Co ihre Meinung und gehen auf Grundlage der dort abgerufenen Informationen irgendwann wählen. Du hast von deinem jugendlichen Sohn erzählt, der gut informiert ist und der kürzlich dennoch eine atemberaubende Falschinformation zum Besten gegeben hat. Du hast ihn aufgeklärt. Die Mehrzahl an verzerrten Informationen wird aber nicht hinterfragt und schon gar nicht geklärt. Wie geht ihr als ARD/br damit um?
Thomas Hinrichs: Zunächst müssen wir das ganz logisch betrachten, das ist ja kein Geheimnis. Die großen Player aus Amerika – Google, Amazon, Facebook und Apple – betreiben ihr Geschäft nicht für die Demokratie, sondern um Geld zu verdienen. Jetzt kommen die Chinesen mit TikTok hinzu. Ich hoffe, dass jetzt einige aufwachen und merken, dass es nicht um normalen Handel geht. Sie sammeln massiv Daten, um zielgenau Werbung zu verkaufen. Das ist ihr Geschäftsmodell. Der Nutzer ist nicht der Kunde, er ist die Ware. Und da die Wahrheit in der Regel komplex und manchmal auch nicht aufregend, sondern mühsam ist, sind die Algorithmen auf einfache, aufregende, emotionalisierende Inhalte programmiert. Davon ist meinem Sohn etwas in die Timeline gespült worden. Ich konnte es aufklären, aber das passiert jeden Tag millionenfach. Das ist gefährlich. Es untergräbt unsere demokratische Kultur, macht gesellschaftliches Handeln unmöglich, weil es polarisiert und Hass sät. Wir setzen unsere ganze journalistische Kraft dagegen. Wir haben factchecking-Einheiten, beim BR ist das der sehr erfolgreiche Faktenfuchs; wir werten mit unserer K.I.-Einheit und den Datenjournalisten Algorithmen aus und klären deren Wirkungsweise auf; wir berichten wahrheitsgetreu und wenn wir einen Fehler gemacht haben, stellen wir das öffentlich klar. Das reicht aber nicht. Wir brauchen eine eigene europäische Plattform, wo wir Europäer den Algorithmus bestimmen können. Der aufgrund unserer Werte und unserer journalistischen Ethik programmiert wird. Wir werden sonst digital kolonialisiert.
MO: Könnt ihr es durch eigens entwickelte Algorithmen schaffen, Clusterbildungen, also gesellschaftliche Blasen, aufzubrechen, die den Horizont beschränken und eine freie Meinungsbildung gefährden?
Thomas Hinrichs: Wir müssen uns ernsthaft fragen, wie es uns besser gelingen kann, alle Zielgruppen zu erreichen. In der bürgerlichen Mitte und bei den Traditionalisten sind wir im BR selbstredend stark verankert. Aber die Jüngeren erreichen wir noch immer zu wenig. Menschen mit Migrationshintergrund bekommen kaum ein Angebot, schon gar nicht die aus dem Arbeitermilieu. Diese Menschen wollen sich integrieren, sie wollen wie viele andere Zielgruppen „dazu gehören“. Und wir müssen ihnen die Informationsbasis dafür verschaffen. Hier hilft die Digitalisierung. Im BR analysieren wir gemäß einer Content Strategie – und, ja klar, durch Auswertung von Daten – genau, welche Gruppen wir nicht erreichen und welche Ausspielformen sie jeweils bevorzugen. Mir gefällt der Algorithmus von Facebook überhaupt nicht. Aber dort findet ein höchst problematischer politischer Diskurs statt. Es sind dabei gar nicht mehr die ganz jungen Menschen, die sich dort austauschen und vernetzen, sondern es ist die Elterngeneration. Also müssen wir dahin. Frauen unter 30 erreichen wir sehr gut mit unserer News WG auf Insta. Wir sind auch auf Tiktok, weil die Jungwähler dort sozialisiert werden. Es gilt die Linie: Besser dort auch guten Content platzieren als die Verschwörungstheorien sich selbst zu überlassen. Bis wir es geschafft haben, mit den eigenen Plattformen bis hin zur europäischen so stark zu sein, dass es die kulturfremden Plattformen nicht mehr braucht. Das klingt für manche naiv und ich weiß nicht, ob das gelingen kann, aber wenn wir die Gefahr nicht sehen und handeln, versündigen wir uns an kommenden Generationen.
MO: Unser Denken formt unsere Wirklichkeit und prägt unsere Handlungen. Gibt es Tipps von dir, wie man die Gesellschaft in Hinsicht auf Künstliche Intelligenzen, Algorithmen &Co noch weitergehend sensibilisieren könnte?
Thomas Hinrichs: Wir haben alle Möglichkeiten. Bei mir im Team arbeiten fantastische junge und brillante erfahrene Journalistinnen und Journalisten. Unser Problem ist wie fast immer, dass wir zu gründlich sind, um schnell genug sein zu können. Die digitale Welt gibt Dir nicht viel Zeit und Muße. Hier müssen wir das Mindset ändern. Nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern anpacken; MVPs, also Prototypen aus dem Boden stampfen und iterativ weiterentwickeln. Die Dinge beim Namen nennen und auf unsere eigene hervorragende Medienlandschaft verweisen, natürlich inklusive öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der nicht fehlerlos ist – aber ohne ihn und stattdessen eine Polarisierung der Medienanbieter wie in Amerika, das möchte ich mir nicht ausdenken. Mein Tipp: Wenn wir in der digitalen Welt alle senden und empfangen können, sollten wir vielleicht auch vorgehen wie Journalisten: Eine verlässliche Quelle suchen, die man kennt und der man vertraut. Und sich dann noch zwei weitere suchen, mit der man das Gelernte überprüfen kann. Und dann nachdenken.