• 17.12.2020 – Im Gespräch mit Dr. h.c. Beate Heraeus

Heute bin ich im Gespräch mit Dr. h.c. Beate Heraeus, Vorsitzende der Heraeus Bildungsstiftung. Bildung spielt eine essentielle Rolle, um Zusammenhänge zu verstehen. In unserer Welt des Wandels ist es schwer, einen Überblick zu behalten: Globalisierung, Technisierung, Digitalisierung, Klimawandel, … und jetzt die Corona-Pandemie mit Homeschooling&Co… – Herausforderungen, denen gegenüber sich viele Menschen ohnmächtig fühlen. Welche Stellschrauben müssen in unserem Bildungswesen justiert werden, damit die Jugend von heute eine starke Generation von morgen ist? Beate Heraeus fordert, Probleme gezielt zu benennen und akute Lösungen zu finden: Schüler*innen sollen Raum bekommen, um ihr Wissen zu reflektieren und selbst zu denken, damit sie zu starken Persönlichkeiten heranwachsen.

MO: Eine Demokratie braucht Demokraten. Demokratisches Handeln basiert auf Bildung in der Breite unserer Gesellschaft. Wie steht es um die Bildung und das Schulsystem in Deutschland?

Beate Heraeus: Ich denke, wir dürfen nicht ständig Erwartungen in unsere Mitmenschen stecken. Wir sollten uns darauf konzentrieren zu schauen, wo etwas klemmt und fragen, wie wir diese Barrieren beseitigen können. Fangen wir mal ganz klein an: Zum Beispiel, was stört im Klassenzimmer? Dann weiter, was stört die Kommunikation innerhalb des Lehrerkollegiums und dann die Schulleitung: Ist sie auf die komplexen Herausforderungen unserer Zeit gut vorbereitet? Wir als Heraeus Bildungsstiftung setzen genau dort an und geben unsere Erfahrungen aus Unternehmen weiter. Denn auch in der Schule geht es um Management. Das Positive, was aus Personal- und Organisationsentwicklung aus Unternehmen übertragbar war, haben wir auf das „System Schule“ angewendet. Damit haben wir so großen Erfolg, dass das Hessische Kultusministerium uns 2017 beauftragt hat, seine künftigen Schulleitungen auszubilden. Inzwischen sind wir auch in anderen Bundesländern aktiv. Auch Schulverwaltungen sind gefordert. Sie stehen in einer veränderten Zeit vor der Aufgabe, Schulleitungen gezielt zu unterstützen. Woran liegt es denn zum Beispiel, dass eine Stadt wie Frankfurt sagt, dass erst 2024 alle Frankfurter Schulen mit WLAN ausgestattet sein werden? Da müssen wir ansetzen und fragen: „Warum geht es nicht früher, was ist zu tun?“, oder: „Warum werden die Gelder vom Digitalpakt nicht abgerufen?“. Das hat seine Hintergründe. Die Schulleitungen wissen nicht, wie sie es abrufen, wie sie es einsetzen können, wie sie die Schulungen für die Lehrkräfte organisieren könnten… Die Probleme müssen heruntergebrochen werden und dann Lösungen gefunden werden. Daran beteiligen wir uns als Bildungsstiftung.

MO: Sie sprechen viele Probleme in unserem Bildungssystem an. Wie ist es um die Bildungsschere bestellt?

Beate Heraeus: Ja, das ist ein großes Problem! Die Bildungsschere klafft auseinander und wir müssen Lösungen finden. Wir sehen, dass es mit Digitalisierung allein nicht getan ist. Viele, die zum Beispiel nicht mit digitalen Endgeräten versorgt sind und nicht damit umgehen können, werden durch die Digitalisierung in Schulen noch stärker abgehängt. Und damit steigt auch die Aggression in einer Gesellschaft. Das darf nicht sein! Auch das müssen wir im Blick haben.

MO: Das ist insgesamt betrachtet eine schwierige Aufgabe. Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel. Bereits in 10 Jahren sollen nach Schätzungen 85% der Berufe ganz anders aussehen, als heute. Werden unsere Schüler*innen darauf vorbereitet?

Beate Heraeus: Wir müssen unsere Schüler*innen zu eigenständigem Denken erziehen. Sie sollten lernen, ihr Wissen zu reflektieren und dann kann man im nächsten Schritt damit umgehen. Ich glaube, wir müssen unbekannte Situationen kreieren. Lesen Sie mal „Blackout – Morgen ist es zu spät“*– es kann alles immer passieren und wir müssen damit rechnen, dass Dinge geschehen, die wir nicht vorhersehen können. Je flexibler wir dann im Kopf sind, je eigenständiger wir Dinge bewerten können und je besser wir mit anderen klugen Köpfen kommunizieren, desto besser wird das Ergebnis. Das ist der Vorteil einer Demokratie! Wir brauchen viele Menschen, die den Mut haben zu hinterfragen. Das müssen wir jungen Menschen vermitteln! Und vielleicht müssen wir dann neu konzipieren.

MO: Stichwort „selbst denken“ – Der Claim der Bildungsstiftung lautet „Persönlichkeit macht Schule“. Nach Art. 26 der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht auf Bildung. Diese soll auch auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gerichtet sein. Leistet das unser Schulsystem?

Beate Heraeus: Dazu ermutigen wir als Bildungsstiftung permanent. Persönlichkeitsentwicklung ist wichtig! Jemanden zu zwingen, der eher in Regelwerken leben will, das ist schwer. Aber die Chance besteht darin, immer wieder dazu einzuladen, Dinge zuzulassen, über Themen nachzudenken und dann mit Verantwortung gepaart – und die ist essentiell – zu entscheiden.

MO: Bislang wird den Schüler*innen viel Wissen eingetrichtert. Wissen ist aber etwas anderes als Bildung. Selbst denken, evaluieren, genau das fordern Sie als Bildungsstiftung. Wo stehen wir in dieser Hinsicht im deutschen Schulsystem?

Beate Heraeus: Ich befürchte, das ist eine noch vorherrschende Meinung in unserer Gesellschaft. Ich denke, die Interaktion kommt heute in der Schule schon viel mehr vor, als wir das annehmen. Heute gibt es viele Arbeiten in Gruppen, wo unterschiedliches Wissen einfließt und neu gedacht wird. Aber klar, es sind alle Schulen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs. Letzte Woche hatten wir die Chance der Teilnahme an der Kultusministerkonferenz. Das war sehr spannend. Denn sogar dort werden die Bildungsstandards in Frage gestellt: Inwieweit muss bestimmtes Wissen, das überall inzwischen abrufbar ist, tatsächlich angeeignet werden? Gleichzeitig muss man aber auch sagen, dass jeder von uns den Anspruch hat, dass der Chirurg und der Flugzeugbauer über das entsprechende Wissen verfügt, sonst ist uns unwohl. Hier müssen neue Wege gefunden werden, denn zum einen brauchen alle ihren Platz in unserem System und zugleich brauchen wir Präzision und Exzellenz!

MO: In der besten aller Welten: Wie sollte die Schule in 10 Jahren aussehen und was können wir als Gesellschaft dazu beitragen?

Beate Heraeus: Ich würde den Schüler*innen mehr Raum lassen zu definieren, welche aktuellen Probleme sie sehen, die wir klären sollten. Und dann müssen wir fragen, wie sie das Problem lösen würden und welches Wissen sie dazu benötigen. „Wie kriegt ihr das? Wie könnt ihr Dinge wirklich bewerten?“ Ich denke, Unterricht wird in diese Richtung gehen. Wir sind da auf einem guten Weg. Auch die Digitalisierung wird hier unterstützend tätig sein.

MO: Da gibt es noch viel Arbeit… Schaffen wir das denn?

Beate Heraeus: Das müssen wir! Und wir werden es schaffen!

Dr. h.c. Beate Heraeus ist seit 2008 Vorsitzende der Heraeus Bildungsstiftung und seit Dezember 2012 Präsidentin von Senckenberg, der international tätigen Gesellschaft für Naturforschung. Beate Heraeus hat BWL studiert und berät auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen Familienunternehmen. Als Vorsitzende der Bildungsstiftung fokussiert sie sich auf strategische Planung, Führungsfragen sowie Personal- und Organisationsentwicklung im deutschen Schulsystem.
*Blackout – Morgen ist es zu spät“ / Der Roman von Marc Elsberg erzählt über einen Zeitraum von zwei Wochen die katastrophalen Auswirkungen eines großflächigen Stromausfalls in Europa.
** Bild von Dr. h.c. Beate Heraeus mit freundlicher Genehmigung der Heraeus Bildungsstiftung eingefügt, Fotograf Andreas Reeg.

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